„Wir-Kultur“ in einer Individualgesellschaft- wie kann das gehen?

Das in Frankfurt basierte Zukunftsinstitut widmet sich der Trendforschung. Es erklärt, dass wir in unserer zunehmenden individualisierten Gesellschaft eine „Wir-Kultur“ entwickeln. Was beim ersten Blick unlogisch erscheint, ergibt bei genauerem Hinsehen durchaus einen Sinn. Worum es dabei geht und wieso dieses Wissen für unsere Beziehungspflege wichtig ist, erfahrt ihr hier:

Einer der vom Zukunftsinstitut identifizierte Megatrend ist die „Individualisierung“, deren Wirkungsmacht sich dem Institut zur Folge zunehmend global in Wohlstandsnationen entfaltet.

Der Individualisierung ordnen sie den scheinbaren Gegentrend der „Wir-Kultur“ zu. „Sie beschreibt das Auftauchen neuer Formen von Gemeinschaften, Kollaborationen und Kooperationen. Diese entstehen nicht nur aus der Notwendigkeit, sich in einer hochkomplexen Welt sinnvoll zu organisieren, sondern haben auch eine Bedeutung für die eigene Identität“, schreibt das Zukunftsinstitut in seinem Megatrend. Das gesamte Glossar „Individualisierung“ ist zu finden.

Aber auch in diesen Gruppen sind Vereinbarungen über die Art, wie und wann Dinge gemacht werden, unabdingbar, wenn die Gemeinschaft längeren Bestand haben soll. Als Teil dieser Vereinbarung muss ausgehandelt werden, wie die Gruppenmitglieder miteinander umgehen wollen: Die Umgangsformen.

Wichtig ist zu verstehen, dass die Umgangsformen, die wir seit Jahrzehnten und Jahrhunderten ausgehandelt haben, nicht willkürlich entstanden sind, sondern einen Sinn hatten: Wir sollten sie als „Straßenverkehrsordnung für das Zusammenleben“ in einer Gruppe verstehen. Sie geben uns eine Orientierung, wie wir in uns in einer Gruppe verhalten können und sicherstellen, dass wir nicht aus dieser ausgeschlossen werden. Die Umgangsformen geben uns Gelegenheit mit unserem Gegenüber auf vielfältige Weise zu kommunizieren. (Über die uns zu Verfügung stehenden Kommunikationskomponenten findet ihr hier mehr.)

Natürlich ist klar, dass auch diese Absprachen mit dem gesellschaftlichen Wandel in Frage gestellt werden, sich verändern oder sogar ganz abgeschafft werden.

Dazu möchte ich drei Beispiele geben:

Beispiel 1: „Beim Betreten eines Raumes sollen Hüte und Mützen abgenommen werden“

Jugendliche, die gerne Kappen tragen, kennen diese Absprache nicht mehr. Und wenn sie sich doch kennen, dann halten sie sie für veraltet und nicht mehr relevant.

Mit dieser Einstellung haben sie grundsätzlich recht, denn die Sitte kommt aus der Ritterzeit, als Ritter als vertrauensbildende Maßnahme ihren Helm abnahmen und sich damit verletzbar machten.

Allerdings hielt sich die Sitte lange über die Zeit hinaus, als es schon lange keine Ritterrüstungen mehr getragen wurde. Mit der Handlung des „Hut Abnehmens“ wurde seinem gegenüber seit dem Respekt und Wertschätzung signalisiert. Dieses non-verable Umgangsform hielt sich meiner Vermutung nach bis zur Studentenbewegung in den 60er Jahren. In dieser Bewegung wollten sich die Menschen aus dem engen Umgangsformenkorsett befreien.

Es ist selbstverständlich, dass sich Umgangsformen sich dem gesellschaftlichen Wandel anpassen sollten. Allerdings sollten wir tiefer in die Gründe für diese gesellschaftlichen Absprachen blicken und gegeben falls neue, non-verbale Kommunikationszeichen vereinbaren, die diese Funktion in Zukunft übernehmen.

Beispiel 2: „Zur Begrüßung reichen wir uns die Hände“

Auch diese Sitte besteht seit der Ritterzeit. Gäste wurden die Hände gereicht, um sie auf ihr Grundstück zu ziehen. Viele Jahrzehnte und Jahrhunderte wurde diese Sitte von Generation zu Generation weitergereicht. Seit einigen Jahren wird bereits darüber diskutiert, ob wir diese Regel nicht aufgrund von bakteriellen und viralen Nebeneffekten abschaffen sollten. In zahlreichen Praxen informieren Ärzte bereits seit mehreren Jahren auf Plakaten ihre Patienten, dass sie aufgrund von hygienischen Gründen auf das Händereichen verzichten wollen. Seit Corona die Welt verändert, ist es normal, sich nicht die Hände zu reichen.

Beispiel 3: Eier und Kartoffeln werden bei Tisch nicht mit dem Messer zerkleinert

Bei dieser Sitte aus früheren Zeiten verhält es sich anders:

Früher wurden beim Essen Eier oder gekochte Kartoffeln auf dem Teller mit der Gabel geteilt und nicht mit dem Messer geschnitten. Diese Empfehlung kam aus einer Zeit, als die Messerklingen aus Silber waren und die Stärke der Kartoffel mit dem Silber oxidierten. In der Gegenwart sind alle Messerschneiden aus Materialien, die keine Oxidationsprozesse in Gang setzen.

Deshalb kann diese Sitte ohne weiteres abgeschafft werden. Allerdings gehört sie in vielen gesellschaftlichen Bereichen nach wie vor zum „guten Ton“.

Unsere moderne Wohlstandsgesellschaft in einem Sozialstaat lässt ein hohes Maß an Individualismus zu. Grundsätzlich brauchen Menschen jedoch eine Gemeinschaft. Sobald wir uns in einer Gemeinschaft befinden, brauchen wir eine allgemein akzeptierte Ordnung mit Regeln und Empfehlungen, wie wir miteinander umgehen wollen. Wenn wir diese nicht festlegen und akzeptieren, dann ist das vergleichbar mit der Aussetzung unserer Straßenverkehrsordnung. Stellt euch vor, einige von uns würden für sich entscheiden, dass rote Ampeln nicht mehr für sie gelten! In dem Fall wäre das Chaos auf unseren Stassen vorprogrammiert. Die Aussetzung von Umgangsformen haben einen ähnlichen Effekt, denn wir verlieren unsere Leitlinien, wie wir miteinander kommunizieren. Deshalb sollten sie in unserer Gesellschaft einen höheren Stellenwert bekommen.

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Das Beitragsbild wurde selbst erstellt.

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